Ein Kind umarmt einen Baumstamm. Sicherheit und Geborgenheit ist für Kinder wichtig.

Kindern Sicherheit und
Geborgenheit geben

Im Laufe des Lebens lernen wir, mit unvorhersehbaren und unsicheren Situationen umzugehen. Doch wie können wir Kindern und Jugendlichen die nötige Sicherheit geben, wenn die Welt um uns unsicher erscheint? Kinder- und Jugendpsychologe, Urs Kiener, erklärt, wie wichtig Sicherheit und Geborgenheit für Kinder sind.

Bis zur Corona-Pandemie ist es in der Geschichte der Menschheit noch nie vorgekommen, dass unsere Sicherheit überall auf der Welt gleichzeitig durch etwas bedroht wurde, das so plötzlich und vollkommen unerwartet über uns hereingebrochen ist. Die Pandemie verunsichert Menschen über alle Generationen hinweg: Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Letztere wurden in ihrem Leben bereits öfters mit unvorhersehbaren Krisen konfrontiert und konnten ihre bisherigen Verhaltensmodelle überdenken und auch anpassen – so zum Beispiel das Händeschütteln bei der Begrüssung. Kinder und Jugendliche hatten diese Chance bisher kaum oder gar nicht. Die Pandemie ist in ihr Leben eingebrochen wie Wasser in ein leckes Boot. Plötzlich gab es massive Beschränkungen der physischen Begegnungen. Die bis anhin selbstverständlichen Kontakte und Verhaltensmuster galten nicht mehr. Dabei sind persönliche Kontakte für Kinder und Jugendliche besonders wichtig. Durch diese finden sie Sicherheit, Geborgenheit und Orientierung im Leben.

 

Sicherheit und Geborgenheit bieten: Wie sich Einsamkeit 
und Trennung auf Kinder auswirken

Etwas vom Schlimmsten, was Kindern und Jugendlichen passieren kann, ist, sich alleine zu fühlen und von vertrauten Personen getrennt zu sein. Viele Eltern lernen diese Angst vor Trennung bei ihren Kindern erstmals bei der sogenannten «Achtmonatsangst» kennen. Dabei fühlt sich das Kind von den Eltern verlassen und reagiert bei anderen Personen mit Angst und Ablehnung. Wenn ein Kind diese Trennungserfahrung über Wochen und Monate immer wieder erlebt, kann das sogar zu Entwicklungsstörungen führen. Kinder in diesem Alter hatten noch nicht ausreichend Gelegenheit zu erkennen, wem sie vertrauen können und wem nicht. Diese Kompetenz zu erwerben ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes und selbstverantwortetes Leben. Wenn sich Kinder unablässig um ihre eigene Sicherheit und Geborgenheit sorgen müssen, fehlen ihnen die notwendige Offenheit und Freiheit, die Umwelt neugierig zu erkunden.

 

Sicherheit erlernen – oder die Prägung von Unsicherheit

Wir müssen uns bewusst sein: Kinder nehmen sehr sensibel wahr, wie ihre Eltern und Erziehungspersonen auf Unvorhersehbares reagieren. Ihr eigener Umgang mit Unsicherheit wird dadurch geprägt. Das hat sich auch während der Pandemie gezeigt: Eltern, Lehrerinnen und Lehrer spielen eine ganz zentrale Rolle als Vorbilder in schwierigen Zeiten. Sie beeinflussen, wie gut Kinder mit Ungewissheiten umgehen können. Wir alle mussten und müssen uns dieser neuen, unsicheren Realität stellen. Wenn wir dabei nur die Defizite sehen und uns über alles ärgern, was jetzt nicht mehr in der gleichen Weise möglich ist wie zuvor, kann das die Stimmung in einer Familie zermürben. Wenn Eltern und Lehrpersonen selbst weder ein noch aus wissen, wirkt das auf die Kinder bedrohlich. Wenn es dagegen gelingt, der besonderen Situation mit Kreativität zu begegnen, kann das eine tolle Chance sein, um Neues zu entdecken und auszuprobieren.

 

Sicherheit geben, Geborgenheit vermitteln

Es ist paradox: Uns gelingt kein gutes Leben, solange wir im Modus der Angst und Verunsicherung verfangen sind. Gleichzeitig sind diese Empfindungen unabdingbar für unser Überleben. Sie weisen uns darauf hin, dass Gefahr droht, und sie zwingen uns, nach geeigneten Bewältigungsstrategien zu suchen, um die Bedrohung zu überwinden. Es geht also nicht darum, dass wir uns und unseren Kindern möglichst alle potenziellen Gefahren und Sicherheitsrisiken präventiv aus dem Weg räumen. Eltern, welche permanent über ihren Kindern «schweben» und diesen ein Leben ohne Risiko garantieren möchten, tun ihnen keinen Gefallen. Vielmehr verbauen sie ihren Kindern die Möglichkeit, eigene Bewältigungsstrategien zu entwickeln. Deshalb empfehle ich, den Kindern genügend Freiräume zu gewähren. Bei unbeobachteten und unstrukturierten Aktivitäten können sie den Umgang mit Unvorhersehbarkeit und Unsicherheit ausprobieren und entdecken. Signalisieren Sie jedoch Ihren Kindern, dass Sie für sie da sind. Stehen Sie Ihnen bei, aber helfen Sie nicht mehr als notwendig – und lassen Sie Ihre Kinder spüren, dass Sie sich freuen, wenn sie Dinge selbständig ausprobieren.