Vater misst die Grösse des Kindes mit einem Bleistift an der Wand.

Das innere Wachstum des Menschen: Entwickelst du dich noch oder wächst du schon?

Ist Wachstum eine Leistung? Auf den ersten Blick nicht – und auf den zweiten doch. Warum das so ist und warum Wachstum und Entwicklung nicht dasselbe sind, erklärt Kinder- und Jugendpsychologe Urs Kiener.

   Kurz und einfach

Wachsen und sich entwickeln sind nicht das Gleiche.
Man kann auch innerlich wachsen.
Inneres Wachstum kann man beeinflussen.
Darum ist inneres Wachstum auch eine Leistung.
 
In meiner Kindheit war der Rahmen unserer Küchentür auch eine Messlatte. In einem regelmässigen Ritual stellten wir uns vor versammelter Familie davor, und unser Vater verewigte unsere neu erlangte Körpergrösse mit Bleistift im Holz. Jeder Wachstumsschub erfüllte uns, aber ebenso unsere Eltern, mit grosser Freude und Stolz: Sie reagierten auf jeden gewachsenen Zentimeter fast genauso euphorisch, wie wenn wir eine gute Schulnote nach Hause brachten.
 

Entwicklung ist nicht gleich Wachstum

Rückschauend wirkt dieser hohe Stellenwert, der unserem Wachstum zugeschrieben wurde, eigenartig. Auf den ersten Blick geschieht dieser Prozess automatisch, ohne dass wir uns dafür speziell anstrengen müssten. Besonders clever muss man zum Wachsen auch nicht sein.

Allerdings geschieht Wachstum eben doch nicht so ohne Weiteres, wie man annehmen könnte. Um das besser zu verstehen, hilft es, wenn wir zwischen Entwicklung einerseits und Wachstum andererseits unterscheiden.
 

Entwicklung: unser Lebenszyklus

Unter Entwicklung versteht man, vereinfacht ausgedrückt, den schrittweisen Verlauf von der Entstehung des Lebens zu den ersten motorischen Meilensteinen. Es folgen über das Leben hinweg zahlreiche Stufen der Veränderung von Körper und Gehirn. Schliesslich kommt es zu einem langsamen Abbau von körperlichen und geistigen Kompetenzen. Mit dem Tod endet der Entwicklungszyklus eines Lebewesens. Ein simples, anschauliches Beispiel dafür ist der Jahreszyklus einer Pflanze, die im Frühjahr spriesst, sich durch das Jahr hindurch fortlaufend verändert und im Herbst abstirbt.

Nutzen wir unser Potenzial

Unter Wachstum hingegen versteht man die Veränderungen innerhalb jedes einzelnen Entwicklungsschrittes – qualitativ und quantitativ. Wie hoch eine Pflanze wächst, wie viel Ernte sie hervorbringt, wie gross diese ist und wie sie schmeckt: All das kann sich von Pflanze zu Pflanze erheblich unterscheiden. Entscheidend dafür ist einerseits die Umgebung: etwa Bodenbeschaffenheit, Sonneneinstrahlung und Bewässerung. Wichtig ist aber auch die Fähigkeit der Pflanze, diese Angebote bestmöglich zu nutzen.

Beim Wachstum geht es also um das vorhandene Potenzial und die Art und Weise, wie wir damit umgehen können. Man kann das vergleichen mit einem Gebäude, das über zahlreiche Räume verfügt. Die Abfolge der Räume symbolisiert die Entwicklungsschritte. Die einzelnen Zimmer stehen für das Wachstumspotenzial. Grundsätzlich können und dürfen wir jeden Raum betreten und ihn nach Belieben erkunden. Es liegt an uns, ob wir eine Tür öffnen und in das Zimmer eintreten oder achtlos daran vorbeigehen. Wenn wir neugierig sind und uns dafür entscheiden, einzutreten, können wir Neues entdecken, Erfahrungen sammeln und dazulernen. Genau das macht inneres Wachstum aus: Es findet statt, wenn wir das Potenzial, das in einem Zimmer schlummert, für uns erschliessen und nutzen.
 

Das Wachstum mitbestimmen

Wachsen im umfassenderen Sinne ist also doch eine Leistung. Wir entwickeln uns zwar im vorgegebenen Rahmen unserer genetischen Anlagen und des Umfelds, in dem wir geboren wurden. Die Art und Weise, wie wir uns in unserem Umfeld bewegen, bestimmen wir jedoch mit – schon als Kinder. Je älter ein Kind wird, desto mehr Erfahrungen will es selbstbestimmt machen: Es bestimmt zunehmend stärker, welche Zimmer es betritt und wie intensiv es darin herumforscht. Deshalb können Geschwister, selbst Zwillinge, die hinsichtlich Anlagen und Umwelt vergleichbare Voraussetzungen haben, zu sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten heranwachsen. Wir alle erleben die Welt anders, verhalten uns anders und reagieren anders auf Situationen. Und das ist unsere Leistung – eine Leistung, die sich nicht nur in Zentimetern bemessen lässt.
 

Wie können Kinder in ihrem Wachstum gefördert werden?

Die allermeisten Kinder sind begierig auf Wachstum. Sie verfügen in grossem Masse über Urvertrauen und Mut gegenüber der Welt und sind neugierig und aktiv unterwegs. In den ersten Lebensjahren werden die Erfahrungen, die ein Kind machen kann, noch stark durch die Eltern definiert. Im Verlauf der Kindheit bestimmt jedes Kind seine Entwicklung und sein Wachstum zunehmend selbst. Je älter ein Kind ist, desto mehr Erfahrungen will es selbstbestimmt machen. Es sucht vermehrt nach Erfahrungen und Kontakten ausserhalb der Familie – in der Schule, bei der Freizeitgestaltung und im Freundeskreis. Dabei konsumieren Kinder nicht passiv, sondern sie gehen selektiv vor. Bei der Wahl der Türen, die sie öffnen, und der Räume, die sie erkunden, spielen die jeweiligen Interessen, Bedürfnisse und Begabungen eine entscheidende Rolle. Auch Freundinnen und Freunde werden aufgrund von persönlichen Neigungen ausgewählt.

Deshalb ist es kontraproduktiv, wenn wir versuchen, unseren Kindern Erfahrungen aufzuzwingen. Ihre Motivation, zu lernen und zu wachsen, geht dadurch eher verloren, als dass sie gefördert wird. Eltern überschätzen oft den Einfluss, den sie, insbesondere auf ältere Kinder, ausüben können. Eltern fällt aber eine ausserordentlich wichtige Rolle zu. Sie haben die Aufgabe, für ein ausreichendes Angebot an Erfahrungen zu sorgen, die das Kind machen kann. Und dieses Angebot ist unersetzlich.